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SEITE 12 FREITAG, 15. JUNI 2018 Das Leben kann so wundervoll sein. Aber genau das haben Menschen mit einer Erschöpfungsdepression nicht mehr vor Augen. Foto: © EVERST - Fotolia.com Völlig ausgebrannt – hilfe bei burnout Rette Dich, das Leben ruft! Jeder zweite Arbeitnehmer lebt laut einer neuen Studie mit der täglichen Angst, seelisch und körperlich zu erschöpfen. Macht uns die Arbeit alle krank? Nicht, wenn wir es nicht zulassen, sagt der Rostocker Arzt und Psychoanalytiker Wolfgang Schneider. Von Antje Wegwerth Rostock. Die Nachmittagssonne scheint warm über das Klinikgelände der Rostocker Psychiatrie, einige Patienten sind auf dem Hof, rauchen eine Zigarette, gehen ein paar Schritte, den Kopf nach unten gesenkt, grübelnd, gedankenverloren. Wer weiß, was sie beschäftigt. In einer der alten Villen auf dem Gelände hat Wolfgang Schneider sein Büro. Der Psychiater und Psychoanalytiker war hier lange Jahre Klinikdirektor, inzwischen ist er emeritiert. In den vergangenen Jahren ist er wiederholt durch kritische Äußerungen zum Thema Burnout aufgefallen. Er habe etwas dagegen, sagt er, dass in dieser Gesellschaft unterschiedlichste Probleme von Menschen unter diesem Begriff zusammengefasst werden. Deshalb sind wir hier, wir wollen wissen, was er damit meint. Gibt es gar kein Burnout, was so viel wie „ausgebrannt“ heißt? Und wenn nicht, warum fühlen sich so viele Menschen ausgebrannt oder haben Angst davor? Bei einer repräsentativen Befragung hatte zuletzt jeder Zweite angegeben, sich von einem Burnout bedroht zu sehen.* Er habe nicht den geringsten Zweifel, dass Menschen bis zur Erschöpfung ausbrennen können, sagt Schneider. Das Problem sei die ärztliche Diagnose „Burnout“. „Wir sind dabei, eine ganze Gesellschaft vorschnell und falsch zu pathologisieren“, sagt er. „Statt Ungerechtigkeiten und zerstörerische Entwicklungen in der Gesellschaft anzuprangern, haben wir ein medizinisches Versorgungssystem eingerichtet, das relevante Teile der Gesellschaft zu ‚psychisch Kranken‘ erklärt.“ Ein eigentlich politisch zu lösendes Problem sei zu einem medizinischen umgemünzt worden. Die Symptome fielen einem Psychoanalytiker auf Blicken wir also zurück: Der Begriff des Burnouts entstand in den 70er Jahren in New York. Damals versuchte der Psychoanalytiker Herbert Freudenberger, der aus Österreich in die USA emigriert war, Menschen in den Armutsvierteln zu helfen. Sozialarbeiter sollten der überwiegend schwarzen Bevölkerung und Prostituierten psychosoziale Hilfen an die Hand geben, um ein besseres Leben zu führen. Die Gruppe war mit viel Enthusiasmus und Engagement gestartet, merkte aber bald, dass sie kaum etwas bewirken konnte. Resignation machte sich breit, Enttäuschung, Sarkasmus. Das war das eine. Zum anderen setzte eine schwere Erschöpfung ein, Schlafstörungen, depressive Verstimmungen, Ängste und das Gefühl, ausgebrannt zu sein. Später in den 80er und 90er Jahren wurde dieses Phänomen verstärkt bei Managern beschrieben, die sich stark engagierten und für ihren Job verausgabten, um auf der Karriereleiter weiter zu kommen, dann aber dekompensierten, wie schon zuvor die Sozialarbeiter in den New Yorker Armutsvierteln. Wir haben aus all dem falsche Schlüsse gezogen, sagt Schneider, die Arbeitswelt und die ganze Gesellschaft zu einem potenziell gefährlichen Ort erklärt, in der jeder jederzeit ausbrennen kann. Auch viele Kollegen glaubten daran, das ärgere ihn. Es sind ja Menschen, die da ausbrennen. Jeder davon ist ein bisschen anders, mit seinen eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten, seinem eigenen Rucksack. Was sagt die Diagnose Burnout denn über den Einzelnen?, fragt Schneider. Dann erzählt er von einem Patienten, der vor einigen Jahren zu ihm kam. Er arbeitete als niedergelassener Arzt und war zuvor wegen Herzproblemen behandelt worden. Die Kardiologen hatten ihn erfolgreich therapiert, körperlich war er wieder vollständig genesen. Nur die Erschöpfung war geblieben, für die es keine körperliche Ursache zu geben schien. Der Arzt erzählte ihm von seiner Praxis, die Dokumentation der Patienten-Fälle mache ihm zu schaffen, es sei so zeitraubend. Und inzwischen habe er regelrecht Angst vor seinen Patienten. Er habe versucht, den Arbeitsablauf so effektiv wie möglich zu gestalten. Aber die Erschöpfung sei geblieben – und die Angst. Er möchte wieder so gerne zur Arbeit gehen, wie vor seiner Erschöpfung, erklärte er Schneider. Ob er ihm helfen und Angst und Erschöpfung „wegmachen“ könne. „Sie sind doch ein kluger Mann“, entgegnete ihm Schneider. „Kann es nicht sein, dass Sie diese Arbeit gar nicht mehr machen wollen?“ Der Arzt habe ihn verdutzt angesehen: Das gehe doch nicht. Er habe Frau und Kinder, für die er sorgen müsse. Und ein Haus. Er könne nicht einfach die Praxis aufgeben. Unbequeme, aber wichtige Fragen Wenn der Mensch zunehmend erschöpft, wird er jäh mit sich selbst konfrontiert. Mit seiner ureigenen Persönlichkeit, seinen Wünschen, Betroffene fühlen sich erschöpft, ängstlich und wollen sich eigentlich nur noch zurückziehen. Foto: © Photographee.eu - Fotolia.com seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen, sagt Schneider. Und das könne unerträglich sein. Er hat von dem Arzt nie wieder etwas gehört. Er geht davon aus, dass er trotz seiner Erschöpfung und Ängste weitergemacht hat. Wie so viele andere Patienten auch, denen er nicht helfen konnte. Mit denen er nicht darüber reden konnte, was ihnen die ganze Kraft geraubt hat. Wo auf ihrem Weg sie ihre Bedürfnisse für Ziele zurückstecken mussten, vielleicht ja auch nie gelernt haben, auf ihre Bedürfnisse zu achten. Ob es Dinge gab, die sie sich über zu lange Zeit zugemutet haben, obwohl sie ihnen nicht lagen. Ob ihre Erwartungen vielleicht enttäuscht wurden, ihr Engagement nicht die gewünschte Wirkung erzielte. Was sie denn an ihrer Arbeit als sinnvoll erlebt haben. Was ihnen Freude bereitet, erfüllend ist. Ob sie sich erinnern können, wann sie zuletzt zufrieden in die Nachmittagssonne geblinzelt haben. Was das für ein Moment war, warum damals alles zu stimmen schien. Es gehöre Mut dazu, das eigene Selbstkonzept, die selbstgesteckten Ziele zu hinterfragen. Sich zu fragen, wo stehe ich, ist es das Richtige für mich? Und wenn nicht, wo will ich hin? Wie will ich leben? Diese Aufgabe könne einem niemand abnehmen. Aber ebenso gilt es anzuerkennen, dass „Teile der Bevölkerung aufgrund ihrer prekären sozialen Situation, zum Beispiel durch schlechte Wolfgang Schneider (65) ist Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie sowie Psychiatrie, zudem ist er Psychologe und Psychoanalytiker. Von 1995 bis 2017 war Wolfgang Schneider Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin der Universität Rostock. Jobs oder Langzeitarbeitslosigkeit, Gefahr laufen, eine psychische Erkrankung auszubilden“, sagt Schneider. Aber dieses Problem könne kein Mediziner lösen, dafür bedürfe es eines politisches Ansatzes. *Die Befragung „Betriebliches Gesundheitsmanagement 2018“ wurde im Februar 2018 vom Marktforschungsinstitut Toluna im Auftrag der Pronova BBK durchgeführt. Die ingesamt 1650 teilnehmenden Arbeitnehmer wurden unter anderem gefragt: „Wie würden Sie aktuell ihr Burnout-Risiko einstufen, auf einer Skala von 1 = „Überhaupt nicht“ bis 10 „Sehr hoch“?“ Kontakt zur Autorin a.wegwerth@nordkurier.de Foto: privat Prof. Dr. Dr. Wolfgang Schneider Zur Person

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